Spiritualität: Ein seelischer Booster für Krisenzeiten
Spiritualität: Ein seelischer Booster für Krisenzeiten
Prof. Eckhard Frick hat am Universitätsklinikum rechts der Isar die neue Professur für „Spiritual Care und psychosomatische Gesundheit“ inne
Spiritualität hat vor allem in der Pandemie eine große Bedeutung: Sie ist eine besondere Kraftquelle – sowohl für kranke Menschen und deren Angehörige als auch für Mitarbeitende von Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Denn: „Für kranke Menschen zu arbeiten, das ist mehr als nur ein Job“, sagt Prof. Eckhard Frick, der seit Kurzem am Universitätsklinikum rechts der Isar die neue Professur für „Spiritual Care und psychosomatische Gesundheit“ innehat. Als Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychiatrie sowie Psychoanlaytiker und Priester wurde er jüngst an die Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie berufen. Durch seine Forschung will Prof. Frick Patient*innen und das medizinische Personal unterstützen – das in Corona-Zeiten stark gefordert ist. „Vor allem in Krisenzeiten tut es gut, persönliche Werte bewusst in den Fokus zu rücken“, rät er. „Die eigenen Kraftquellen, die eigene Spiritualität, all das, was dem eigenen Leben Sinn gibt.“ Ein Experten-Interview.
Der Begriff Spiritualität steht für viele Menschen in einem rein religiösen Zusammenhang – ist das nicht ein bisschen zu kurz gefasst?
Durchaus. Bei Spiritual Care geht es nicht nur um die religiösen Bedürfnisse kranker Menschen und deren Angehörigen, sondern genauso um spirituelle und existenzielle Wünsche. Konkret gemeint sind hier etwa spirituelle Bedürfnisse nach innerem Frieden oder nach der Klärung der Sinnfrage. In der Geburtshilfe und Neonatologie zum Beispiel, wenn es um „Leben und Tod“ geht, brauchen betroffene Eltern oft Rituale und einen verständnisvollen Dialog, um Staunen und Dankbarkeit oder aber Angst und Trauer ausdrücken zu können. Auch in anderen Krisensituationen werden spirituelle Bedürfnisse viel stärker gespürt als im Alltag. Das konnten wir in einer Studie zeigen, die wir im Wartebereich einer Münchner Notfallambulanz durchgeführt haben.
Was genau haben Sie in dieser Studie herausgefunden?
Vier Fünftel der kontaktierten Patientinnen und Patienten hatten sich zur Teilnahme bereit erklärt. Die spirituellen Bedürfnisse waren bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Männern: Und: Es bestand kein Zusammenhang zwischen diesen Bedürfnissen und dem Alter oder dem Schweregrad der Erkrankung.
Es gibt aber einen engen Zusammenhang zwischen Spiritual Care und Gesundheit?
Ja, definitiv. Erst jüngst haben wir auch in einem allgemeinmedizinischen Projekt Hausärztinnen und Hausärzte in Spiritual Care geschult und deren Patientinnen und Patienten interviewt. Im Hinblick auf das psychische Wohlbefinden waren die Befragungsergebnisse eindeutig: Patientinnen und Patienten, für die Spiritualität eine große Bedeutung im Leben hat, fühlten sich seelisch besser. Übrigens: Auch in dieser Studie haben wir Spiritualität als eine mögliche Kraftquelle in der Krankheitsverarbeitung untersucht, überkonfessionell und unabhängig von der Religionszugehörigkeit.
Man hat oft den Eindruck, Spiritual Care konzentriere sich hauptsächlich auf die Begleitung sterbender Menschen. Stimmt das?
Nein. Spiritualität ist nicht erst am Lebensende ein Thema für kranke Menschen. Vielmehr hängt Spiritualität mit Verbundenheit zusammen – und Bindung ist für uns Menschen von der Wiege bis zur Bahre lebenswichtig.
Im Medizinstudium wird das Thema Spiritualität immer stärker berücksichtigt. Warum?
Spirituelle Themen gelten in unserer Kultur immer noch als Privatsache, sie sind bisweilen sogar ein Tabu. Die wichtigste Spiritual Care-Kompetenz ist deshalb eine Art „Grüne-Ampel-Effekt“: Nur wenn der Arzt oder die Ärztin die Initiative ergreifen, werden spirituelle Ressourcen sprachfähig. Es kommt also darauf an, dass Medizinstudierende die Bedeutung von Spiritualität verstehen und diese existenzielle Dimension des Menschseins in die Anamnese einbeziehen können.
Wie wichtig ist denn Spiritualität für das medizinische Personal?
Sehr wichtig! Über die Patientenversorgung hinaus spielt die Spiritualität nämlich auch eine große Rolle in allen Gesundheitsberufen. Vor allem dann, wenn sich Mitarbeitende Fragen stellen wie: Warum übe ich diesen anstrengenden Beruf überhaupt aus? Woraus schöpfe ich meine Kraft? Welche Werte sind mir für mein Leben und für meinen Beruf wichtig? Wie gehe ich mit Moral Distress um, also damit, dass ich diese Werte aus Zeitmangel oder Systemzwängen nicht realisieren kann? In einer sogenannten multizentrischen Studie wollen wir Anfang 2022 diesen Moral Distress und auch die spirituellen Ressourcen in der Intensiv- und Notfallmedizin untersuchen.
Konkret gefragt: Wie können die Betroffenen Spiritual Care in ihren Arbeitsalltag besser integrieren, um mehr Kraft zu schöpfen?
Aus der Intensivmedizin kennen wir das Prinzip ,Ten for Ten‘ – also zehn Sekunden für zehn Minuten. Das bedeutet konkret: In einer stressigen Routinesituation zehn Sekunden Time-out, um diese Situation zusammenzufassen, Möglichkeiten auszuloten – und dann eine Entscheidung für die nächsten zehn Minuten zu treffen. Ähnlich funktioniert die spirituelle Pause: Besonders wenn die Zeit knapp ist, sollte man sich Zeit nehmen für ein Ritual der Dankbarkeit, der Trauer, des Abschieds oder der Mitfreude, etwa über eine Geburt. Ich meine damit nicht eine konventionelle Schweigeminute, wenn jemand gestorben ist – sondern ganz explizit Zeiten der Sammlung und der Achtsamkeit, wie dies in allen spirituellen Traditionen praktiziert wird.
Wie kann Spiritual Care Arbeitende im Gesundheitswesen in Zeiten der Corona-Krise stärken und unterstützen?
In der Pandemie leiden viele Beschäftigte in Kliniken und Pflegeeinrichtungen unter „moral distress“: Sie können also nicht das tun, was sie für richtig halten. Damit kann es individuell und auf Teamebene zur Demoralisierung kommen. Dazu gehört auch das drohende Abgeschnittensein von spirituellen Ressourcen – bis hin zur inneren oder äußeren Kündigung. Umgekehrt ist es aber so: Wenn jemand mit seinen eigenen spirituellen Ressourcen verbunden ist, wenn das Team und die Leitung diese Ressourcen wertschätzt, dann sind auch Belastungen besser zu ertragen und man findet gemeinsam besser kreative Lösungen.