50 Jahre Uniklinikum: Ein „Greenhorn“ schreibt Geschichte bei der Knochenmarktransplantation

50 Jahre Uniklinikum: Ein „Greenhorn“ schreibt Geschichte bei der Knochenmarktransplantation

Immer wieder blaue Flecken, ein blasses Gesicht, dann ein blutunterlaufenes Auge - mit Christoph stimmte etwas nicht. Folgerichtig ging die Mutter mit dem damals achtjährigen zum Kinderarzt. Das war im Januar 1975 und es war der Beginn einer dramatischen Krankengeschichte mit letztendlich gutem Ausgang.

Die Blutwerte waren katastrophal, der Arzt und die Mutter erschraken – der Bub musste sofort ins Krankenhaus nach Memmingen. In der Klinik wurde dem Jungen mehrmals das Knochenmark punktiert. Die verschiedenen Proben brachten alle ein Ergebnis: Christoph litt an aplastischer Anämie.
Bei der aplastischen Anämie werden im Knochenmark keine Blutzellen mehr produziert. Eine sichere Diagnose der sehr seltenen Krankheit bekommt der Arzt durch die Analyse des Knochenmarks. Zeigt sich hierbei ein so genanntes „leeres Knochenmark“, befinden sich also nur noch sehr wenige Zellen im blutbildenden Mark, dann spricht man von einer aplastischen Anämie. Was die Krankheit auslöst, ist nicht klar, aber man weiß, dass unter anderem die Lymphozyten des Patienten die eigenen Blutstammzellen attackieren und vernichten.

Schlechte Aussichten für Christoph

Die Aussichten für Christoph waren miserabel, auch wenn er damals seine Situation selber als nicht so schlimm wahrnahm: „Ich fühlte mich gar nicht so krank und verstand nicht so recht, wieso der Pfarrer zur letzten Ölung kam“, blickt er zurück. Im Allgäu wusste man nicht weiter und verlegte den Jungen nach München. „Der Arzt hatte extra einen Mercedes für den Transport ausgesucht, um mir eine Freude zu machen. Und ich war enttäuscht, weil das Auto kein Blaulicht hatte.“

In München wurde nochmals punktiert, das Ergebnis war wieder niederschmetternd. Zur damaligen Zeit wussten die Ärzte nicht, wie sie dem Jungen noch helfen konnten. Der heute 50-Jährige berichtet, dass in der Krankenakte diese Zeit als „eine Phase der therapeutischen Verzweiflung“ beschrieben wird. Als letzte Rettung kam der behandelnde Arzt auf die Idee, sich an Hans-Jochem Kolb zu wenden, damals tätig an der Kinderklinik Schwabing – die zum Klinikum rechts der Isar und zum Städtischen Klinikum München gehört. Kolb war gerade aus Seattle zurückgekehrt, wo er als Postdoktorand bei dem späteren Nobelpreisträ- ger Edward Donnall Thomas, einem Pionier auf dem Gebiet der Stammzelltransplantation, gelernt und geforscht hatte. Nun ruhte die Verantwortung für Christophs Leben auf den Schultern des gerade einmal 30-jährigen. „Ich war damals ein Greenhorn“, sagt Hans-Jochem Kolb über sich selber. Er hatte noch keinen Facharzt, aber er hatte eine Idee, wie dem kleinen Patienten geholfen werden konnte. Es war die lebensrettende Idee.

Knochenmarktransplantation als einzige Lösung

Er las sich durch die dicken Krankenakten und wusste, dass es eigentlich nur eine Möglichkeit gab, nämlich das kranke Knochenmark des Jungen durch gesundes eines Spenders zu tauschen. In Seattle hatten sie den Austausch von Knochenmark bereits bei einigen Menschen erfolgreich durchgeführt. In Deutschland hatte bisher niemand positive Erfahrungen mit der Transplantation von Knochenmark gemacht. Kolb musste sich auf das besinnen, was er in den USA gelernt hatte: Zuerst machte er sich auf die Suche nach einem geeigneten Spender und fand ihn auch bald unter den Geschwistern des kranken Kindes. Der zehn Jahre ältere Bruder passte nicht nur perfekt, er war auch alt genug, um selber zu entscheiden.

Der Patient von damals erinnert sich: „Ganz hinten im Gang war ein Raum, das Säuglingszimmer. Das hatten sie für mich hergerichtet und der Gang war die Schleuse. Außer dem Pflegepersonal und meinen Eltern durfte niemand zu mir." Es war der 18. März 1975 und der Junge bekam wie so oft eine Infusion. „Ich war ganz ungeduldig, weil ich endlich das gesunde Knochenmark meines Bruders wollte und fragte, wann es denn losgeht.“ Er hatte sich für den großen Moment eine OP vorgestellt und nicht nur eine „einfache“ Infusion. 

Ein langer Weg bis zur Heilung

Danach begann der Abstieg in die Hölle: „Wir hatten das entnommene Knochenmark des Bruders unbehandelt weitergegeben“, erklärt Kolb. Das Knochenmark griff den fremden Empfängerkörper an, der sich mit allen Mitteln wehrte: „Gelbsucht, Magen-Darm-Entzündungen, Hautveränderungen und eine sehr, sehr schwere Lungenentzündung“, zählt der Pionier der Knochenmarktransplantation die Komplikationen auf, die sein Patient durchmachte. Mehr als einmal hing das Leben des Kindes am seidenen Faden – aber der Junge schaffte es. Am 10. September 1975 wurde er als geheilt entlassen. Heute ist er dreifacher Familienvater, steht fest im Berufsleben und er ist Mitglied der freiwilligen Feuerwehr. „Ich bin einfach Blaulicht-affin“, meint er lachend.

Ultima Ratio bei Leukämie

1975 gelang es Hans-Jochem Kolb, das Leben des an aplastischer Anämie erkrankten Christoph mit der Transplantation von Knochenmark zu retten. Die möglichen Komplikationen einer solchen Therapie sind vielfältig, aber heute wesentlich besser beherrschbar als früher. Eingesetzt wird die Therapie nicht nur bei aplastischer Anämie, also wenn das Knochenmark keine Blutzellen mehr produziert, sondern auch bei Leukämie. „Heute ist eine Knochenmarktransplantation bei Leukämie die Ultima Ratio und wir haben bei Kindern eine Heilungsrate von 70 bis 80 Prozent“, erklärt Irene Teichert-von Lüttichau. Sie ist Ärztin in der Kinderklinik Schwabing und ihr Spezialgebiet ist pädiatrische Hämatologie und Onkologie.

Für eine solche allogene Transplantation wird ein Spender benötigt, bei dem die Gewebemerkmale ausreichend übereinstimmen – die sogenannte HLA-Typisierung. Im nächsten Schritt muss durch Bestrahlung oder Chemotherapie das alte Knochenmark des Patienten zerstört werden. Nun gilt es, bei der Übertragung des gespendeten Knochenmarks das Immunsystem des Empfängers möglichst wenig anzuregen: Denn im Knochenmark des Spenders befinden sich neben den blutbildenden Stammzellen auch T-Zellen. Diese T-Zellen des Spenders betrachten das Gewebe des Empfängers selbstverständlich als fremd und bekämpfen es. So wie bei Christoph, der heftigen Reaktionen ausgesetzt war. Schließlich kam man auf die Idee, das Knochenmark des Spenders vor der Transfusion von den T-Zellen zu reinigen – 1978 wurde das zum ersten Mal erfolgreich durchgeführt. Heute gehört diese Reinigung zur Standardbehandlung.

Nach erfolgter Transfusion muss das Immunsystem des Empfängers zuerst einmal lernen, mit dem fremden Gewebe klarzukommen. Bis sich der Körper an das Transplantat gewöhnt hat und es toleriert, dauert es einige Monate. Es ist eine besondere Eigenschaft des Knochenmarks, dass der Empfängerkörper es nur eine Weile als Eindringling bekämpft. Als sogenannte Chimären, also als Menschen mit genetisch unterschiedlichen Zellen, können die Menschen hernach problemlos leben. 

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