Nach BGH-Urteil: Palliativmedizin soll sinnlose Therapien verhindern oder beenden
Nach BGH-Urteil: Palliativmedizin soll sinnlose Therapien verhindern oder beenden
Der Bundesgerichtshof (BGH) lehnte am 2. April 2019 eine Klage auf Schmerzensgeldanspruch wegen Lebensverlängerung durch künstliche Ernährung ab. Die Begründung: Das Leben - auch wenn es leidvoll ist - darf man nicht als Schaden ansehen. Darum gibt es auch keinen Anspruch auf Schadensersatz. Prof. Johanna Anneser, Leiterin des Palliativmedizinischen Dienstes (PMD) am Klinikum rechts der Isar erklärt, warum diese Klage trotzdem wichtig war.
BGH-Urteil: Kein Schmerzensgeld wegen Lebensverlängerung
Frau Prof. Johanna Anneser leitet den Palliativmedizinischen Dienst des Klinikums rechts der Isar. (Fotos: Oliver Mensch)
Frau Prof. Anneser, seit 2015 leiten Sie den Palliativmedizinischen Dienst des Klinikums rechts der Isar. Hat das BGH-Urteil Auswirkungen auf Ihre Arbeit?
In dem beurteilten Fall wurde ein an einer fortgeschrittenen Demenz leidender Patient künstlich ernährt – über fünf Jahre hinweg. Ohne Überprüfung der Indikation, also ohne dass dies medizinisch angezeigt gewesen wäre. Eine Patientenverfügung lag nicht vor. Aus Studien wissen wir, dass bei schwerstdementen Menschen keine medizinische Veranlassung (Indikation) für eine Ernährung per Magensonde vorliegt, weil sie nicht davon profitieren: Die Gefahr des Verschluckens wird nicht reduziert und ihre Lebensqualität verbessert sich nicht. Im Gegenteil: Es kommt zu einer Verringerung pflegerischer Zuwendung. Die Frage, die entschieden wurde, war jedoch nicht, ob die medizinische Behandlung richtig oder falsch war. Es ging darum, ob aus der Lebensverlängerung durch eine medizinisch nicht angezeigte künstliche Ernährung Schadensersatz abgeleitet werden kann. Der BGH hat dies nun zurückgewiesen, weil er der Meinung ist, dass es sich generell verbietet, das Leben – auch wenn es ein leidvolles ist – als Schaden anzusehen. Da kein Schaden entstanden sei, gibt es auch keinen Anspruch auf Schadensersatz.
"Palliativmedizin: Zusammen mit Patient und Angehörigen die bestmögliche Entscheidung finden."
Unabhängig von der Schadensersatzpflicht ist es aber seit Langem gesetzlich geregelt, dass ärztliche Maßnahmen im „Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose“ geprüft werden müssen. Vernünftigerweise sollte dies nicht nur für die Einleitung, sondern auch für die Fortführung von Maßnahmen gelten.
Es gehört auch zu den Aufgaben der Palliativmedizin, hier zu beraten und sinnlose Therapien zu verhindern oder zu beenden. Wir versuchen bei unseren Patienten zusammen mit den Angehörigen, die bestmögliche Entscheidung zu finden.
Ist der betroffene Patient nur eine traurige Ausnahme?
Leider nein. Menschen wie ihn sehen wir bei uns im Klinikum rechts der Isar eher selten. Es sind überwiegend ältere Patienten in Pflegeheimen, die künstlich ernährt werden, ohne dass noch ein Therapieziel vorhanden wäre. Hier läuft ein Automatismus einfach weiter. Es ist wirklich ein Verdienst des Klägers und seines Anwalts, dass sie den Finger in diese Wunde legen. Sie wollten mit ihrer Klage eben auch erreichen, dass solche Entscheidungen künftig regelmäßig überprüft werden.
Der Fall bestätigt das weit verbreitete Vorurteil, dass eine hochtechnologisierte Medizin das Leben schwerkranker Menschen künstlich verlängert und damit unerträgliches Leid verursacht.
Es gibt viele neue Behandlungsmethoden mit deutlich verbesserten Heilungschancen. Beispielsweise hat die Tumortherapie bei einigen Krebserkrankungen in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Aber es gibt eben auch die Gefahr der Übertherapie, die verhindert, dass ein Mensch friedlich sterben kann. Der BGH-Fall bezieht sich auf genau so eine Situation. Künstliche Ernährung mit einer Sonde ist extrem hilfreich für jemand, der z. B. einen schweren Unfall hatte und dem zeitweise Nahrung zugeführt werden muss. Aber es besteht auch die Gefahr einer nicht angemessenen Übertherapie. Hier wächst Ärzten wie Angehörigen durch das Urteil eine Aufgabe zu, die die Amerikaner „choosing wisely“ nennen: also klug und weise abzuwägen, was in welcher Situation sinnvoll ist.
Der Palliativmedizinische Dienst des Klinikums rechts der Isar setzt sich aus Mitarbeiterinnen verschiedener Berufsgruppen zusammen: Ärztinnen, Palliativ-Care-Fachkräften, Sozialpädagoginnen, einer Kunstpädagogin und einer Verwaltungskraft.
"Weise abwägen, was in der Situation sinnvoll ist."
Seit zehn Jahren sind Patientenverfügungen gesetzlich geregelt. Reicht dies für den Ernstfall?
Die Patientenverfügung ist wichtig. Um auch nützlich zu sein, muss sie allerdings möglichst konkret formuliert sein. Die Aussage „Ich möchte nicht an Maschinen hängen“, ist zu unspezifisch. Es gab mehrere BGH-Fälle, in denen so etwas moniert wurde. Weil man aber nie alle Situationen vorhersehen kann, sollte man die eigene Einstellung in Gesprächen mit Angehörigen und Freunden klar darlegen. Dann kann der mutmaßliche Willen später zuverlässiger ermittelt werden.
Sorgen die Menschen ausreichend mit einer Patientenverfügung vor? Haben Sie selbst eine?
Ich besitze eine, seit 15 Jahren. Ich habe sie anlässlich der Geburt meines ersten Kindes gemacht. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema ist stark abhängig vom Alter. Etwa 55 Prozent der 70- bis 79-Jährigen haben eine, bei den 50- bis 59-Jährigen sind es nur 14 Prozent. Da ist schon noch Luft nach oben. Noch wichtiger finde ich aber eine Person, der man das zutraut, mit einer Vorsorgevollmacht auszustatten.
Was passiert, wenn jemand seinen Willen nicht mehr bekunden kann und keine Patientenverfügung vorliegt?
Diese Situation ist im Patientenverfügungsgesetz klar geregelt. Im ersten Schritt prüft der Arzt, ob eine Maßnahme medizinisch angezeigt, wir sagen indiziert, ist. Wenn das der Fall ist, muss der mutmaßliche Wille zusammen mit dem Betreuer ermittelt werden. Dazu sollen dann nicht nur die Angehörigen, sondern auch Vertrauenspersonen wie Freunde die Gelegenheit bekommen, sich zu äußern. Auch das ist gesetzlich geregelt.
Wie gelingt es, einen Konsens zwischen Patient, Angehörigen und den Ärzten über Therapieziele und die Fortführung lebenserhaltender Maßnahmen herzustellen?
Es ist nirgends festgelegt, welche Gespräche in welchem zeitlichen Abstand stattfinden müssen. Eine Therapie sollte nicht als Automatismus weiterlaufen, es muss regelmäßig geprüft werden, ob sie noch Sinn macht. Man darf sich auch ruhig als Angehöriger zum Anwalt des Patienten machen und die Ärzte darauf ansprechen.
"Lebensqualität ist individuell höchst unterschiedlich."
Was ist Lebensqualität, wenn Heilung nicht mehr möglich ist?
Lebensqualität ist das, was der Einzelne für Lebensqualität hält. Und das ist individuell höchst unterschiedlich. Viele Untersuchungen zeigen, dass sich die eigene Vorstellung von Lebensqualität wandelt. Gerade bei Erkrankungen mit einem längeren und schweren Verlauf orientieren sich Patienten häufig um. Jemand, der sehr sportlich war, gewinnt dann Lebensqualität dadurch, dass er für die Familie da ist, liest, sich für Kunst interessiert. Es gibt sogar Patienten, die, wenn sie akzeptiert haben, dass der Tod unausweichlich ist, von einer sehr hohen Lebensqualität berichten. In manchen Fällen sagen sie sogar: „Mit geht es besser als je zuvor“ – obwohl man sich das als Außenstehender nicht gut vorstellen kann.
Können Patienten Therapien wünschen oder eben verweigern, wenn damit der Tod eventuell schneller eintritt?
Jeder Patient, der einwilligungsfähig ist, kann jede medizinische Maßnahme jederzeit ablehnen. Wenn ein Mensch mit einem Gefäßverschluss am Bein nur durch eine Amputation gerettet werden kann, er dies aber ablehnt, dann gilt sein Wille. Ein anderes Beispiel: In extrem hohen Dosen können Opiate theoretisch den Todeseintritt beschleunigen. Hat ein Mensch allerdings unerträgliche Schmerzen oder schwere Atemnot, dann darf er Medikamente in einer Dosierung bekommen, die den Tod billigend in Kauf nimmt. Dies ist durch ein BGH-Urteil abgedeckt, das bereits aus dem Jahr 1996 stammt.
Wo muss der Gesetzgeber noch für mehr Klarheit sorgen?
Beim ärztlich assistierten Suizid beispielsweise. Mit der Revision des Paragrafen 217 Strafgesetzbuch ist Rechtsunsicherheit entstanden. Wenn mich heute ein Patient in der ambulanten Beratung fragt, wie er schneller sterben könnte, ist unklar, ob allein die Beratung, wenn diese „auf Wiederholung angelegt ist“, strafbar ist. Für uns ist das also tatsächlich eine wichtige Frage. Aber auch hierzu liegen bereits mehrere Verfassungsbeschwerden vor.
Zum Urteil des Bundesgerichtshofs
Palliativmedizinischer Dienst am Klinikum rechts der Isar: Hilfe in der letzen Lebensphase