„Der ethische Teufel steckt oft im Detail“
„Der ethische Teufel steckt oft im Detail“
Alena Buyx über die Impfstoff-Verteilung bei fehlenden Daten zur Wirkung bei Risikogruppen
Prof. Alena Buyx ist Professorin leitet das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der TUM und ist seit April 2020 Vorsitzende des Deutschen Ethikrats.
Bild: A. Heddergott
Eigentlich sollen in Deutschland aktuell vor allem Hochbetagte gegen Covid-19 geimpft werden. Was aber passiert, wenn wenige Forschungsdaten über die Wirkung neuer Impfstoffe bei Älteren vorliegen? Solche Umstände sollten eine Rolle in den ethischen Überlegungen zur Verteilungsgerechtigkeit knapper medizinischer Ressourcen spielen, sagte die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats Alena Buyx bei der „Covid-19 Lecture Series“ der Technischen Universität München (TUM), wo sie Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien ist.
„Einen Impfstoff will die ganze Welt. Und am Anfang – das war absehbar – ist nicht genug für alle da. In einer solchen Situation der absoluten Knappheit muss man eine Priorisierung vornehmen“, sagte Buyx. Die bislang zugelassenen Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 werden in Deutschland deswegen nach einem fünfstufigen Priorisierungs-Schema verteilt. Da Menschen über 80 Jahre ein 500-fach höheres Risiko haben, schwer oder tödlich an Covid-19 zu erkranken als die junge und gesunde Bevölkerung, stehen sie momentan ganz oben auf der Verteilungsliste. Die praktische Verteilung könnte sich aber bei neuen Impfstoffen ändern.
„Jemand, der ein ganz anderes Risiko hat, darf auch anders behandelt werden.”
Wenn es darum gehe, die gut durchdachten ethischen Leitlinien, die Buyx gemeinsam mit den Mitgliedern des Ethikrats, der Ständigen Impfkommission (STIKO) und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina erarbeitet hatte, nun in der Praxis umzusetzen, stehe man vor enormen Herausforderungen, sagte sie. Ein Beispiel ist der am Freitag von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA zugelassene Impfstoff der Firma AstraZeneca. Laut der STIKO liegen zur Beurteilung der Impfeffektivität ab 65 Jahren aktuell keine ausreichenden Daten vor. Buyx sagte, wenn es Unterschiede in der Wirksamkeit eines Impfstoffs bei unterschiedlichen Altersgruppen gebe, müsse dieser Umstand in die Impfstoffvergabe einbezogen werden.
Grund dafür, dass momentan vor allem Hochbetagte geimpft werden, sei der Grundsatz, dass die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz, aber auch ihre Unterschiedlichkeit anerkannt werden müssten. „Jemand, der ein ganz anderes Risiko hat, darf auch anders behandelt werden,“ sagte die Medizinethikerin. Dennoch müssten die praktischen Leitlinien, die sich aus dem rechtsethischen Rahmen ergeben, stetig angepasst und weiterentwickelt werden – vor allem, wenn wichtige medizinische Daten noch nicht vorlägen. „Der ethische Teufel steckt oft im Detail“, sagte Buyx.
„Wir sind auf einer ganz steilen Lernkurve.”
Das Fehlen verlässlicher Daten spiele aber auch an anderen Stellen eine Rolle, wenn es um die gerechte Verteilung von Impfstoff gehe. Etwa sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht sicher auszuschließen, dass Geimpfte das Virus weitergeben können. Wenn klar wäre, dass jüngere Menschen ältere durch ihre eigene Impfung vor einer Ansteckung schützen können, könnte auch das die Priorisierung beeinflussen. „Wir sind auf einer ganz steilen Lernkurve“, sagte Buyx. Wichtig sei bei der Impfstoffverteilung aber vor allem, dass diese transparent, belastbar und verständlich sei, das könne Vertrauen schaffen. Dass man den Verteilungsprozess nie so gestalten könne, dass alle damit zufrieden seien, sei aber klar.
In ihrem Vortrag sprach Buyx zudem über die Triage, also das Priorisieren von Patienten mit akutem Behandlungsbedarf, wenn die medizinische Kapazität nicht ausreicht. Während die Triage in Deutschland glücklicherweise nach wie vor eine theoretische Überlegung ist, hat der Deutsche Ethikrat mit seiner Vorsitzenden Alena Buyx die Empfehlungen für die Impfstoffverteilung entwickelt, auf deren Grundlage nun politische Entscheidungen getroffen wurden. „Es ist für mich teils eine bizarre Situation“, sagte die Medizinethikerin. Seit fast 20 Jahren beschäftige sie sich mit der Verteilung knapper medizinischer Ressourcen und oft sei sie gefragt worden, warum sie sich mit einem solch theoretischen Thema befasse. Doch seit Anfang 2020 ist ihr Thema hochaktuell und könnte kaum praxisrelevanter sein.