Krebszellen mit Contergan-Derivaten aushungern

Krebszellen mit Contergan-Derivaten aushungern

In der Therapie von hämatologischen Krebserkrankungen wie dem Multiplen Myelom werden seit mehreren Jahren immunmodulierende Substanzen erfolgreich eingesetzt, darunter die Contergan-Derivate Lenalidomid und Pomalidomid. Forschende am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM)  haben nun die Wirkweise dieser Medikamentenklasse weiter entschlüsselt. Gleichzeitig identifizierten sie neue Ansatzpunkte für innovative Krebstherapien.

Die Contergan-Nachfolgepräparate Lenalidomid und Pomalidomid werden unter strenger Aufsicht von erfahrenen Onkolog*innen verschrieben – die Wirkstoffe sind ein Grundstein moderner Krebstherapien. Insbesondere bei hämatologischen Krebserkrankungen wie dem Multiplen Myelom haben sie den Therapieerfolg und die Überlebensdauer von Betroffenen erheblich verbessert. Da die Medikamentengruppe das Immunsystem beeinflussen kann, wird sie unter dem englischen Namen immunomodulatory drugs (IMiDs) zusammengefasst.

Viele Membranproteine betroffen

Aus bisherigen Studien ist bekannt, dass IMiDs ein Protein namens Cereblon binden. Dies führt zur Fehlfunktion eines Proteinkomplexes an der Oberfläche von Tumorzellen – was das Tumorwachstum hemmt. Nun hat ein Forschungsteam unter der Leitung von Prof. Florian Bassermann, Direktor der Klinik für Innere Medizin III, und Vanesa Fernández vom Klinikum rechts der Isar mit einer neuen Studie den genauen Mechanismus und die Tragweite dieser Dysregulation entschlüsselt.
Sie fanden heraus, dass Cereblon als sogenanntes Co-Chaperon das Protein HSP90 unterstützt, welches für die korrekte Faltung von tausenden Proteinen in menschlichen Zellen verantwortlich ist. Die Wissenschaftler*innen konnten zeigen, dass die unterstützende Funktion des Co-Chaperons Cereblon spezifisch für Membranproteine ist. Diese an der Zelloberfläche verankerten Proteine erfüllen verschiedene Aufgaben, die für das Gedeihen von Tumorzellen grundlegend sind: Sie ermöglichen die Kommunikation mit Nachbarzellen, sie leiten Wachstums-Signale weiter und nehmen wichtige Nährstoffe auf.

Durch eine Behandlung mit IMiDs kann Cereblon nicht mehr an die HSP90-Maschinerie binden, wodurch seine unterstützende Funktion in der Qualitätskontrolle von Membranproteinen wegfällt. „Wir konnten durch Proteom-weite Analysen zeigen, dass eine Vielzahl von wichtigen und teils essentiellen Proteinen an der Oberfläche von Krebszellen durch IMiD-Behandlung destabilisiert wird“, sagt der Onkologe Florian Bassermann. „Dies erklärt letztlich die außergewöhnlich breiten Effekte der Substanzklasse.“

Stichwort Contergan

Unter dem Handelsnamen Contergan wurde die Substanz Thalidomid in den 50er- und 60er-Jahren als Beruhigungsmittel vertrieben und löste damals aufgrund ihrer Nebenwirkungen einen der größten Arzneimittelskandale der Geschichte aus: Nachdem bekannt geworden war, dass die Einnahme von Contergan in der Schwangerschaft in bis zu 10.000 Fällen zu schweren Missbildungen geführt hatte, wurde das Medikament vom Markt genommen.

Tumorzellen werden ausgehungert

Im Multiplen Myelom sind insbesondere die Proteine CD98hc und LAT1 betroffen. Gemeinsam gewährleisten diese Proteine üblicherweise die Versorgung der Krebszellen mit Aminosäuren. Da die Krebszellen beim Multiplen Myelom einen besonders hohen Bedarf an Nährstoffen wie Aminosäuren haben, kommen CD98hc und LAT1 in Myelomzellen in großen Mengen vor. Das Forschungsteam hat nun gezeigt, dass die Behandlung mit IMiDs die Aufnahme von essentiellen Aminosäuren deutlich reduziert und dadurch das Wachstum der Tumorzellen hemmt. „Die Krebszellen werden hierdurch sprichwörtlich ausgehungert“, erklärt Michael Heider, Erstautor der Studie.

Neue zielgerichtete Therapiemöglichkeiten

Die Entdeckung, dass das Multiple Myelom über die Proteine CD98hc und LAT1 angegriffen werden kann, eröffnet neue Möglichkeit für innovative Therapien dieser bisher unheilbaren Krebserkrankung. Zusammen mit Prof. Wolfgang Weber, Direktor der Klinik fpr Nuklearmedizin am Klinikum rechts der Isar, haben die Forschenden ein Molekül getestet, das sich gegen CD98hc richtet: Ein sogenanntes Anticalin. Dieses wurde erst kürzlich von Arne Skerra entwickelt, Professor für Biologische Chemie an der TUM. Die Versuche haben gezeigt, dass das Molekül sowohl in der Zellkultur, als auch im Mausmodell hochspezifisch an das Oberflächenprotein CD98hc bindet. Dieses Anticalin könnte also in Zukunft zielgerichtet für Therapie und Diagnose eingesetzt werden. „Entsprechende frühe klinische Studien befinden sich in Planung“, sagt Bassermann.

Publikation
Heider M., Eichner R., Stroh J., Morath V., Kuisl A., Zecha J., Lawatscheck J., Baek K., Garz A.K., Rudelius M., Deuschle F.C., Keller U., Lemeer S., Verbeek M., Götze K.S., Skerra A., Weber W.A., Buchner J., Schulman B.A., Kuster B., Fernández-Sáiz V., Bassermann F. The IMiD target CRBN determines HSP90 activity towards transmembrane proteins essential in multiple myeloma, Molecular Cell, 2021
DOI: 10.1016/j.molcel.2020.12.046

Kontakt
Prof. Dr. med. Florian Bassermann
Klinik und Poliklinik für Innere Medizin III
Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München
Tel.: 089 4140-4111
E-Mail: florian.bassermannattum.de

Vanesa Fernández, PhD
Klinik und Poliklinik für Innere Medizin III (TranslaTUM)
Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München
E-Mail: vanesa.fernandezattum.de

 

Beteiligte Fachbereiche und Kliniken: 

Klinik und Poliklinik für Innere Medizin III

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